"Über das Trinken": Ein Aufklärungsbuch für Berlin, Brüssel und die Party zuhause

Peter Richter folgt der Spur des Alkohols durch Kultur und Geschichte des Abendlandes: kurzweilig, pointiert und mit gehörig viel Prozent Hintersinn. Denn ein Bekenntnis zu Alkoholgenuss und Rausch verlangt heutzutage nach Komik, um ernst genommen zu werden.

Peter Richter folgt der Spur des Alkohols durch Kultur und Geschichte des Abendlandes: kurzweilig, pointiert und mit gehörig viel Prozent Hintersinn. Denn ein Bekenntnis zu Alkoholgenuss und Rausch verlangt heutzutage nach Komik, um ernst genommen zu werden.

Peter Richter folgt der Spur des Alkohols durch Kultur und Geschichte des Abendlandes: kurzweilig, pointiert und mit gehörig viel Prozent Hintersinn. Denn ein Bekenntnis zu Alkoholgenuss und Rausch verlangt heutzutage nach Komik, um ernst genommen zu werden.

Unsere Sinne sind essentielle Zutat des Mensch Seins. Sie gehen dem Verstand voraus und überprüfen sein Urteil gleichermaßen. Was aber, wenn die Sinne uns trügen, weil wir sie bewusst stimulieren oder betäuben?

Welche Sinn(en)haftigkeit ist dem Rausch selbst zu eigen? Beobachtungen, Gedanken und Fakten zur Beantwortung dieser Fragen sind in Peter Richters „Über das Trinken“ nachzulesen. Die knapp 200, flüssig geschriebenen Seiten sind Sachbuch und Plädoyer, anekdotisch und informativ zugleich. Der Text selbst schwankt, klingt nie ganz ernst im Ton, ist aber oft sehr ernst gemeint. Man sollte sich also nicht täuschen lassen, denn der Text kreist nicht um sich selbst, wie der Trunkene um die Laterne. Hier avanciert die Verrückung zwischen Ernst und Ironie, Nüchternheit und Rausch zum strukturellen Programm. Gerade die permanente Nüchternheit verlangt ihr schattenartiges Korrektiv: den Rausch, der erst zu einer Reflexion animiert.
 
Es liegt in der Ambivalenz des Gegenstands, so Richter, in der Janusköpfigkeit des Alkohols begründet. Aus demselben Grund taumelt auch die aktuelle Alkoholdebatte zwischen Gegensätzen wie Sucht versus Genuss, gesundheitsfördernd versus schädlich oder Abstinenz versus Flatline-Saufen hin und her. „Dieses Geeiere hat selbst etwas Alkoholisiertes an sich. Der Alkoholdiskurs, könnte man sagen, torkelt von Anfang an ganz gehörig.“ So gesehen ist es ein anthropologisches Torkeln, das wir in Form einer scheinöffentlichen Debatte heute nachtanzen.

Am Anfang war der Alkohol

Wer mit Richard Wrangham im Verwenden des Feuers für das Kochen die Initialzündung für das Entstehen für Kultur, gar für die Menschwerdung sieht, sieht mit „Über das Trinken“ quasi doppelt. Die Herstellung von Wein oder Bier – diese beiden alkoholischen Leitgetränke des Abendlandes – habe die Menschen dazu bewogen, sesshaft zu werden und auf den Ackerbau als Zivilisationstechnik zu setzen, so Richter mit dem deutschen Evolutionsbiologen Josef Reichholf als Kronzeugen. Im Bedürfnis nach Transzendenz mittels Rausch erkennt er das zweite Argument für den Alkohol als Treibstoff von Kultur und Menschwerdung. Oder unernst formuliert: „Ein sehr starker Grund, irgendwo zu bleiben, ist die Aussicht auf den nächsten Drink. Der Mensch benimmt sich heute noch so. Und wenn der Mensch sich seltsam benimmt, sind meistens die sogenannten Urinstinkte im Spiel.“
 
Beide Gedanken trägt Richter, sozusagen wie das Glas in der Hand auf einer Party, durch das gesamte Buch. Das reicht von den Sumerern, die ein Drittel ihrer Getreideernte für die Bierherstellung verwendeten, bis zu den „Pilgrim Fathers“ und der alkoholisierten Kolonialisierung Amerikas. So legten die ersten Siedler mit der „Mayflower“ viel weiter nördlich als geplant an der neuen Küste an, weil „our victuals being much spent, especially beere“. Für manche ernüchternd, für andere keine Überraschung ist auch die Aufzählung der amerikanischen Träger des Literaturpreises, die Alkoholiker waren: von Sinclair Lewis über William Faulkner bis zu Ernest Hemingway.

Widerstand – mit dem Glas in der Hand

Der nüchterne Ernst des spaßigen Tons nimmt gegen Ende eine alkoholkulturpessimistische Note an. Richter graust es vor dem Siegeszug der Nüchternheit als Erfindung der kapitalistischen Moderne, er warnt vor der Brown Bag-Kultur der Amerikaner, diesen „Burquas aus Packpapier“ und sieht das strikte Verbot des öffentlich sichtbaren Trinkens von Alkohol aufziehen. „Am Ende wird nur noch der trinken, dessen Körper nicht mehr anders kann, und die Breitenkultur des Genuss- und Rauschtrinkens, von der in diesem Buch die Rede war, wird erloschen sein. Wenn das Trinken zur kulturellen Ausnahme wird, wird man keine kulturelle Ausnahme mehr dafür machen.“
 
Peter Richters essayistischer Cocktail ist kein Buch für Trinker, aber jedem Abstinenzler zu empfehlen. Es ist ein Plädoyer für den Alkoholkonsum und die Kulturtechnik des Rausches, das witzig ist, damit es ernst genommen werden kann. In diesem Sinne ist es ein Trunkener, der die Wahrheit spricht. „Über das Trinken“ ist Aufklärung und Propaganda für Berlin, Brüssel und die nächste Party zuhause. Wer mehr will, der leiste selbst Widerstand – mit dem Glas in der Hand.


Zum Nachlesen:

Peter Richter, „Über das Trinken“, München, 2011