Wermütigen Herzens: Zu Besuch bei Noilly Prat

„L’Enclos“
„L’Enclos“ heißt das Außenlager, wo in rund 1000 Fässern die Grundweine für den Wermut an der frischen Seeluft reifen.

Wermut ist in. Landauf und landab gewinnt er neue Liebhaber. Doch wer den Trend mag, sollte die Originale kennen. Eine Trinkvisite in der französischen Heimat des Wermuts.

Meine erste Begegnung mit Wermut war keine erfreuliche, sondern kam in der abscheulichen Art übersüßen Alkohols für kleine Mädchen und zarte Jungs daher. Einige Jahre und manchen Barbesuch später war ich mit dem gewürzten und gespriteten Wein aus Italien und Frankreich wieder ausgesöhnt: Negroni und Wodka Martini sei Dank. Seitdem weiß ich, die „Mixability“ gehört einfach zum genetischen Trinkcode des Wermuts. Na gut, ein Extra Dry auf Eis geht auch bei Tageslicht, aber im genussversonnen Kern der Erinnerung verbinde ich mit Wermut eine halbdunkle Bar mit farbigen Lichtakzenten und fortwährendem Gemurmel der Gäste.

Jetzt aber stehe ich an dem kleinen Hafenbecken und blicke auf die unverdrossen wippenden Boote. In der Ferne räkelt sich unaufgeregt das Mittelmeer und schickt eine kühl-würzige Brise herüber: mit intensiven Noten von frischem Tang, Algen und einem salzigen Abgang. Die Sonne gibt sich launisch, und spielt beim schönen Frühlingstag nicht immer mit. Ich drehe mich um, quere die Hafenstraße und stehe auch schon vor dem Maison Noilly Prat: 1 rue Noilly, 34340 Marseillan.

 

Outdoor seit über 150 Jahren: L'Enclos

Die Empfangshalle wird gerade komplett umgebaut und bis zur Saisoneröffnung sind es nur noch wenige Tage. Das weitläufige Gelände in Hafenlage ist seit 1853 Sitz des Unternehmens. Der Sohn des Firmengründers, Louis Noilly, ließ es errichten, er war es auch, der die besondere Reife in Holzfässern unter freiem Himmel einführte. Dieses sozusagen „Signature Aging“ von Noilly Prat ist angelehnt an die Reife der Fassweine, die vormals per Schiff transportiert wurden: Wind und Wetter ausgesetzt, offen an Deck, zu allen Jahreszeiten.

„L’Enclos“ heißt das Außenlager, wo in rund 1000 Fässern die Grundweine für den Wermut an der frischen Seeluft reifen. Man sieht den Fässern die gepflegte Vernachlässigung leichter Verwitterung an. Es sind ehemalige Cognac-, Whisky- und Sherry-Fässer, in denen die Weißweine der heimischen Rebsorten Picpoul und Clairette die besondere Noilly-Prat-Note erhalten. Bis zu drei Mal am Tag lassen es die Wermut-Macher künstlich regnen, um zu verhindern, dass die Fässer durch Sonne und Luft nicht austrocknen.

Und wenn es auch nur fünf und nicht zwölf Jahre wie bei manchem Whisky oder Cognac sind: Selbstverständlich erhalten im L'Enclos die Engel gleichfalls ihren Anteil vom kostbaren Fassgut. Rund sechs Prozent der abgefüllten Menge verschwinden während der Reife als „Part des Anges“ im Himmel – dessen Bar zu besuchen ich mir übrigens fest für die Zeit nach meinem Ableben vorgenommen habe.

 

 

Wenn Wein Wermut wird: Salle des Secrets

Aber was wäre ein Wermut ohne Wermut? Bereits in der Antike optimierte man den Trinkgenuss eher mäßiger Weine mit Gewürzen und Kräutern. Und in einer Dekade, die im Zeichen des Gin steht, sind Botanicals schließlich in aller Munde. Auch die geheimnisvolle Rezeptur der Zutaten und das aromatische Mysterium der Mazeration, dem Aromatisieren des Weins mit den Botanicals, sollte der Wachholder-Jüngerschaft bestens vertraut sein. In der Salle des Secrets von Noilly Prat, im Zimmer der Geheimnisse, geht es nicht anders zu. Dabei sind es nicht nur Ingredienzien aus der Region, sondern es finden sich auch Zimt, China-Rinde, Muskat, Safran und Nelke in den rund 20 Botanicals der verschiedenen Geschmacksqualitäten. Bevor die Grundweine nun in die Mazeration gehen werden sie noch mit etwas Mistelle verschnitten. Der gespritete Süßwein – traditionell aus Andalusien eingeführt – lagert zuvor in bis zu 40.000 Liter großen Fässern im „Chai des Mistelles“. Die Lagerung in den großen Fässern entschleunigt die Oxidation des Mistelles und verleiht ihm mehr Profil und Rundung.

Allein Mazeration und Fassreife sorgen für das leuchtende Rot des Noilly Prat Rouge und das blasse Gold des Noilly Prat Ambré. Denn im Gegensatz zu den italienischen Standesgenossen verwenden sie in Marseillan ausschließlich Weißweine für den Wermut. Allerdings kommt man nur in der Hafenstadt selbst in den Genuss aller Qualitäten des Hauses. In den Rest Frankreichs und in das Ausland liefert Noilly Prat nur den Original Dry aus. Ein Umstand, der mehr als zu bedauern ist, aber heute im Maison Noilly Prat nicht ganz so ins Gewicht fällt.

 

Geschüttelt und gerührt: mit Kelly an der Bar

Damit der Besuch bei Noilly Prat keine Trockenübung bleibt, bin ich mit Kelly Bevan verabredet. Sie organisiert im Maison Noilly Prat die Masterclasses für die mixende Klientel und für die Cocktail interessierten Besucher des Hauses. Folgerichtig finde ich mich beim Wermut in einer Bar wieder, allerdings mit Tageslicht und dem sich schnell einbrennendem Grün der Marke hinter dem Tresen vor Augen.

Kelly kennt sich aus mit flüssigen Kostbarkeiten, hat lange für Bacardi – mittlerweile Eigentümer von Noilly Prat – in Frankreich gearbeitet und kam über die persönliche Leidenschaft des Cocktail-Mixens auf den Wermut aus Marseillan. Verschiedene Kurse und Gastaufenthalte in renommierten Bars später avancierte sie dann zur Cocktail-Hohheit bei Noilly Prat. Als erstes widmen wir uns einem „Green Bay“, weil ich den Gaumen nicht vom grünen Chartreuse lassen kann. Dem Kräuterlikör gönne ich ein paar wohlmeinende Tropfen mehr als es die Rezeptur vorschreibt. Aber die kräftige Würze des Chartreuse kontrastiert bestens die elegante Aromatik des Original Dry und kommt auch gut mit dem Wodka zurecht.

Dabei ist es eigentlich ein Dry Martini, wie er um 1911 an der Bar des New Yorker Knickerbocker Hotels gemixt wurde, der den Wermut aus Marseillan zur Bar-Legende gemacht hat. Barkeeper Martini di Arma di Taggia bestand nämlich darauf, dass der Wermut in seinem Drink ein Noilly Prat sein müsse. Doch ohne einen Schluck Noilly Prat Ambré wird mich Kelly nicht los und einvernehmlich einigen wir uns auf einen „Pear and Prat“. Sehr charmant und fruchtbetont der Cocktail, vielleicht ein wenig zu charmant, aber der Ambré ist es wert.

Die Nachmittagssonne, die sich im Wellenrelief des Hafenbeckens spiegelt, hält mir noch einmal den Ambré vor Augen, als ich meine Trinkvisite im Takt der wippenden Boote Revue passieren lasse und überlege, wieviel Flaschen ich wohl in den Koffer bekomme.

Zum Nachmachen empfohlen

Green Bay
4 cl Gin
2 cl Noilly Prat Original Dry
1 cl grünen Chartreuse
Ab ins Mixing-Glas, gut rühren und anschließend in ein Martini Glas abgießen und mit einer Olive dekorieren.

Pear and Prat
4 cl Vodka
2 cl Noilly Prat Ambré
2 cl Zitronensaft
4 cl Birnensaft oder -nektar
1 cl Kakao-Likör
Alles ab in den Shaker und im Tumbler servieren.


Michael Stolzke/Auf ein Glas

Marseillan – am Meer
In der Ferne räkelt sich unaufgeregt das Mittelmeer und schickt eine kühl-würzige Brise herüber.